Vor einigen Jahren war ich drei Wochen in den S
Der Märchenbaum
Wer schon einmal das Glück hatte, zur Herbstzeit in Korea gewesen zu sein, der kann wohl mit meiner Faszination für diese Saison mitfühlen.
Während meinem Auslandsjahr in Korea habe ich (trotz Covid19-bedingter eher ungünstiger Umstände) eine Unzahl an einprägsamen Erfahrungen gemacht. Doch wenn ich nun zurückblicke, merke ich nur umso deutlicher, was für einen besonderen Platz die koreanischen Jahreszeiten in meinem Herz gewonnen haben. Bei der Erwähnung koreanischer Jahreszeiten würden die meisten wohl sofort an den Frühling denken, zu dem die Kirschblüten die Bäume schmücken und eine weiße und rosane Decke über den Boden ausbreiten. Doch die Jahreszeit, die in mir den größten Eindruck hinterlassen hat, ist der Herbst. Als ich vor lauter Universitätsstress in meinem winzigen Oneroom-Zimmer kaum noch atmen konnte und nur noch hinaus ins Freie wollte, erlaubte ich mir eines Tages, eine kleine Pause einzulegen. Ich schnappte mir meine Tasche, zog hastig meine Schuhe an, und machte mich auf den Weg. Einfach nur raus. Ich hatte bereits zu Beginn meines Aufenthalts an der Seoul National University den naheliegenden Kwanaksan-Berg besucht. Neben den vielzähligen Wanderwegen, die auf den Berg führen, befinden sich zu Fuße des Berges außerdem ein kleiner Park mit Teich, in dem eine kleine Entenfamilie lebt. Auch ein Pagoda steht zu Seiten des Teiches und berreichert die bunte Spiegelung im Wasser mit seinem Antlitz. Ich entschied mich an jenem Tag, die Strecke bis zu dem Teich zu Fuß zu gehen und wanderte somit von meiner Haustür bis zu dem Berg im Freien. Endlich konnte ich ein wenig frische Luft schnappen. Schon als ich den Eingang zu den Wanderwegen am Fuße des Berges erreicht hatte ragten hier und da die herbstlichen Bäume hinter den grauen Hochhäusern hervor. Doch erst als ich den Wanderweg betrat und mich auf den Weg zu dem Teich begab, bot sich mir die wahre Schönheit der Natur. In allen Abstufungen von grün, gelb, orange, braun und rot erstreckten sich die Bäume in einem farbenfrohen Spiel, welches nur der Herbst zu spielen vermag. Ich spürte, wie sich mit jedem Schritt mein Tempo verlangsamte. Ich genoss jeden Schritt, lauschte dem Rauschen der Bäume, dem Quaken der Enten, dem Rascheln des Laubs, welches dem Takt meiner Schritte folgte. Der Wind blies durch den Wald und mit ihm tänzelten die bunten Blätter um mich herum. Endlich atmete ich freier, und meine Schultern lockerten sich mit jedem Atemzug. Ich konnte lediglich spüren, wie sich die Last von mir abschüttelte. Doch dann stockte mir für einen Moment erneut der Atem. Doch diesmal war es nicht aufgrund der Anspannung, die sich in den vorherigen Wochen in meine Brust gefressen und meine Tage verdunkelt hatte. Nein. Vor mir stand der schönste Baum, den ich je in meinem Leben gesehen hatte. Und das obwohl ich als Landkind von jung auf schon immer von Bäumen umgeben war. Dieser Baum stand am Rand des Flussufers, mit rotem Blattkleid. Hinter ihm die Sonne, deren Sonnenstrahlen die Blätter in so bildhaft perfekter Weise durchdrungen, dass diese von selbst aus zu leuchten schienen. Die wenigen Wanderer, die zu jener perfekten Stunde ebenfalls an diesem Baum vorbeiliefen fanden sich in ebenbürtigem Staunen. Inzwischen all dieser wunderschönen herbstbunten Bäume stand der eine Baum, der es trotzdem schaffte, herauszustechen. Als wäre er direkt aus einem Märchen gewachsen, stand er einfach nur da und leuchtete. Dieses Bild werde ich niemals vergessen. Das Bild des leuchtenden Baumes, der mich an jenem Tag tröstete. Der Baum, der in jenem Moment so perfekt von den Sonnenstrahlen umtänzelt war - als würde er nur darauf warten, so von mir gesehen zu werden. Der Märchenbaum. Dieses Bild werde ich auch in Zukunft immer in meinem Herzen tragen, und obwohl keine Kamera der Welt dessen wahren magischen Anblick festhalten könnte, hoffe ich dennoch, dass dieser Baum auch Ihnen ein wenig Ihrer Last nehmen kann. So wie er es damals für mich getan hat.